Petruschkis Fahrt ins Blaue - Kapitel 17 - Toulouse-Lautrec - Man muss sich selbst ertragen können
Im Dezember 2019 gingen wir auf eine Reise mit Bus und Bahn durch Spanien, Frankreich, Deutschland, Belgien, Großbritannien und Irland. Das Ziel war die Ausstellung Protest! von Derek Jarman in Dublin. Mehr darüber im 1. Kapitel Ins Blaue geträumt. Das Ziel war diese Ausstellung, aber dann haben wir uns herumgetrieben und 21 Ausstellungen besucht. Es wurde ein Zeitreise, vom Barock in die Moderne. In Staunen versetzte mich, wie jede einzelne Künstlerin, jeder Künstler es schaffte in seiner Zeit sein Werk zu kreieren. Mit sicherem Wissen oder großen Zweifeln, mit Selbstverständlichkeit und/oder schmerzhaften Kämpfen. Wir haben Geschichten entdeckt und Freunde getroffen. In diesem Kapitel sind wir immer noch ganz am Anfang unserer Reise in Paris. Nach El Greco gehen wir in die nächste Ausstellung im Grand Palais: Toulouse-Lautrec Résolument Moderne – Entschlossen modern vom 9. Oktober 2019 – 27. Januar 2020
Toulouse-Lautrec – ein kleiner bärtiger, bebrillter Mann, salopp auf einen Stock gestützt, so flog er als Bild irgendwo in meinem inneren Durcheinander herum. Lange Zeit verstaubte dieses Bild da, weil ich es nie bewegte, dieses Bild vom Mann mit Stock und Hut, der mir wie ein milder älterer Herr erschien. Und überall hingen diese Plakate aus dem Pariser Varieté-Leben, in jeder Pizzeria meiner Jugend, ganz zu schweigen von irgendwelchen französischen Weindepots. Aristide Bruant. Für immer der rote Schal des Bohemien. Etwas Ähnliches passierte mir mit den Selbstporträts Frida Kahlos. Tauchten sie irgendwo auf, schaute ich an ihnen vorbei, durch sie hindurch. Sie wurden zu Werbung. Bunt und leer. Zugeballert damit von allen Seiten. Und ihre Schönheit und Tiefe musste ich erst wiederentdecken, so verklebt waren sie durch ihre Dekopräsenz überall. Das Werk von Toulouse-Lautrec ist uns so vertraut, dass wir den Blick dafür verlieren, wie kühn und mutig er als Künstler war, wieviel Neues er zu seiner Zeit geschaffen hat.
Der alte Mann war sehr jung und starb sehr jung und hatte wenig Zeit, seine große Kunst zu schaffen. Er malte viel mit Kohle, schnelle Striche, scharf beobachtete Szenen voller Leben und Bewegung. Und auf Karton, da trocknete die Farbe schneller. Die große Kraft seines Werks hat mir eine Zeitmaschine geschenkt. Direkt in die vielschichtige Welt der Pariser Boheme, in die Belle Epoque und seinem eigenen Leben darin. In dieser Zeit der Wechsel, Änderungen, Erfindungen. Plötzlich gab es künstliches Licht auf den Straßen von Paris in der Nacht. In den Varietés. Alles erleuchtet, “Alles verzaubert”. So war der Titel des ersten Raums der Ausstellung.
Die Ausstellung in Paris vor zwei Jahren im Grand Palais begann mit diesen Fotos, die oben zu sehen sind. Und da konnte ich gleich seine Jugend, seine Lebendigkeit, seine Hingabe ans Spiel, die Lust an Verkleidung und Rollenwechsel, seinen offenen neugierigen Blick und seinen Schalk sehen.
Die Fotografie war für Henri Toulouse-Lautrec eine Verbündete. Ab dem Jahr 1880 verbreitete sich das Medium schnell. Er selbst fotografierte nicht, aber Freunde machten für ihn Aufnahmen von seinen Modellen oder von den Performances, in denen er sich verkleidete, die Rollen wechselte, sich neue erschuf, aus Träumen Bilder machte.
Und er malte mit einem fotografischem Blick. Das besondere an seiner Art zu malen und zu zeichnen waren die bis dahin ungewöhnliche Perspektiven und Bildausschnitte und sein ungeschönter Blick auf die Realität. Das gab es bis zu dieser Zeit in der Form noch nicht. Gemalte Momentaufnahmen großer Intensität und Wahrheit.
Das ist das einzige Selbstporträt Toulouse-Lautrecs, das nicht karikaturistisch verzerrt ist. Der junge, etwa 19-jährige Henri Toulouse-Lautrec zeigt sich im Spiegel. Mit Entfernung und Distanz. Die Utensilien auf dem Sims gleichem einem Stilleben und wirken wie eine Balustrade. Man erahnt einen ernsten Blick, aber ein Blickkontakt von Maler zu Betrachter ist kaum möglich. Die Augen sind hiner den Gläsern des Zwickers verborgen. Er gibt sich mit diesem Selbstporträt nicht preis, weder sein Gesicht noch seinen Körper.
Henri Toulouse-Lautrec wird am 24. November 1864 geboren. Die Familie stammt aus altem Adelsgeschlecht. Eine Linie läßt sich bis ins 9.Jahrhundert zurückverfolgen. Damit sich das Vermögen nicht durch Erbteilung schmälert, heiratet man untereinander. Auch Toulouse-Lautrecs Eltern waren Cousin und Cousine, ihre Mütter waren Schwestern. So erwischte Henri Toulouse-Lautrec diese Erbkrankheit, die ihn ab seinem 10. Lebensjahr nicht mehr wachsen ließ. Schon als Kind malte und zeichnete er viel. Es gibt eine Geschichte auf der deutschen Wikipediaseite, die ich sehr anrührend finde: als er ein Kind war, musste man ihm am Abend die Buntstifte wegnehmen, damit er endlich schlafen ginge. Er stand dann heimlich wieder auf, klaubte die verbrannte Kohle aus dem Kamin und zeichnete damit weiter. Seine Eltern hatten sich nach dem frühen Tod des zweiten Sohnes getrennt, jeder lebte sein eigenes Leben. Der Vater muss ziemlich irre gewesen sein, ein wilder Jäger und Reiter und auch er verkleidete sich gern und sehr verrückt. Er kannte einige bildende Künstler, mit denen er Henri zusammenbrachte und die ihm mit Rat zur Seite standen. Henri Toulouse-Lautrec wuchs auf verschiedenen Schlössern auf, mit vielen Menschen, Tanten, Onkel, Cousins, Cousinen. Er soll lebhaft und witzig gewesen sein. Als er durch die Krankheit schwächer wurde, schützte und versorgte ihn seine Mutter. Die Jagd und das Reiten war wichtig, auch Henri war ein guter Reiter bis die Krankheit ausbrach. Als Jugendlicher liebte er es, Pferde zu malen.
Dieses Pferdeporträt, dass er mit 17 Jahren malte, hat mich sehr bezaubert. Es pulsiert. Die Farben sind schön.
Ein Jahr später malte er dieses Bild.
Seit dem Frühjahr 1882 hatte Toulouse-Lautrec durch das Studium bei Bonnat und Cormon die Möglichkeit nach dem Modell zu malen. Man sieht eine nachdenkliche junge Frau, den Finger an der Unterlippe. Es sieht nicht so aus, als wäre die Darstellung des Aktes hier das Wichtige, vielmehr scheint es die Person zu sein. Die Frau wirkt für mich irgendwie schutzlos und zaghaft in einer ungewohnten Umgebung. Interessant, die Art wie es gemalt ist, mit früher Könnerschaft: der Kontrast zwischen den schwarzen Strümpfen und der hellen Haut auf die partiell das Licht fällt. Die vielen Farbschattierungen des Diwans, die Grautöne des Hintergrundes.
Freundschaft mit Vincent van Gogh
Sein Lehrer Bonnat wird im Sommer 1882 Professor an der Ecole des Beaux-Arts. Er nimmt Lautrec nicht mit. Die Enttäuschung für Lautrec ist groß, vor allem weil Bonnat ihn für einen schlechten Zeichner hält. Er wechselt zu Cormon, der ist nicht so angesehen wie Bonnard, aber er geht auf seine Schüler ein und mietet für sie ein Atelier am Montmatre. In der Klasse von Cormon trifft er Freunde mit denen er Zeit seines Lebens verbunden bleiben wird. So auch den 11 Jahre älteren Vincent van Gogh.
Obwohl sie so vollkommen unterschiedlich sind, von Charakter, Herkunft, Lebensart und -weise, führen die beiden in den letzten vier Jahren von Van Goghs Leben eine intensive Freundschaft. Ihre Leidenschaft für die Kunst führt sie zusammen, sie respektieren die Arbeit des anderen, sie stellen gemeinsam aus, tauschen Gemälde aus und schreiben sich Briefe. (Leider gibt es keinen dieser Briefe mehr.)
Lautrec ist weltgewandt, kultiviert mit beißendem Witz, Van Gogh mürrisch, zurückgezogen, mit gelegentlich heftigen Wutausbrüchen. Es muss ein seltsames Paar gewesen sein, der kleine Mann mit Stock und Hut und der hagere Kerl mit dem roten struppigen Bart.
So unterschiedlich ihr Wesen ist auch ihre Kunst: “Van Goghs gezackte Pinselstriche und schwindelerregende Farbwirbel schienen mit elektrischem Strom aufgeladen; seine expressionistische Kunst war fiebrig und qualvoll. Lautrecs hervorragende Zeichenkunst und prägnante Satire schienen mühelos. Aber beide Künstler waren der Meinung, dass das Thema eines Bildes weniger wichtig ist als seine Ausführung und dass der Maler einer idealen Vision von Kunst verpflichtet sein muss. Lautrec, einer der ersten, der Vincents Talent erkannte, führte ihn in die berauschenden Freuden des Absinths und in die Variétés von Montmartre ein.”
Zitiert nach The Madman and the Dwarf: Van Gogh and Lautrec by Jeffrey Meyers Auch Quelle dieses Abschnitts über die Freundschaft zwischen Van Gogh und Toulouse-Lautrec
Henri de Toulouse-Lautrec malte dieses Porträt von Vincent van Gogh mit Pastellkreide auf Karton im Jahr 1887.
Das impressionistische Bild ist in Blau-, Orange- und Gelbtönen gehalten. Van Gogh sitzt an einem Tisch mit einem Glas Absinth im Café du Tambourin. Hier konnte Van Gogh seine nicht bezahlten Rechnungen mit Bildern begleichen. Nach vorn gebeugt sitzt er da und hat die Hände zu Fäusten geballt. Hinter ihm steht ein blauer Zinktisch mit leeren Gläsern, man sieht ein mehrteiliges Fenster und einen Wirbel aus gelben Linien, der die Wirkung des Absinths anzudeuten scheint. Roger Fry, der englische Kunstkritiker, der den Begriff des Postimpressionismus prägte, bemerkte, dass Lautrec Van Goghs „bunte Schraffuren und kommaähnliche Striche“ nachgeahmt habe, um seine ängstliche Stimmung darzustellen.
Das letzte Treffen von Van Gogh und Lautrec fand am 6. Juli 1890 in Theos Van Goghs Pariser Wohnung statt. Lautrec war unerwartet vorbeigekommen. Sie machten Witze auf Kosten einer Leichenbestattungsassistentin, die sie gerade auf der Treppe kennengelernt hatten. Vincent war ungewöhnlich gut gelaunt und schrieb vier Tage später an Theo: „Ich habe sehr schöne Erinnerungen an diese Reise nach Paris. Sehr bemerkenswert ist das Bild von Lautrec, das Porträt einer Klavier spielenden Frau „Portrait de musicienne“. Ich war davon zutiefst berührt.”
Van Gogh sprach vom Bild auf der linken Seite. Es ist aus dem Jahr 1890. Ein anderes Bild zeigt Misia Natanson am Klavier. Eine faszinierende Persönlichkeit. Verewigt auf Bildern von Lautrec, Renoir, Vallotton, in der Literatur von Proust und Cocteau. Ravel widmete ihr einen Walzer. Sie wird sicher noch einmal im Kapitel Lautrec und die Frauen auftauchen. Das war mal wieder so ein Schlenker. ein kleiner Umweg sozusagen. 7 Jahre liegen zwischen den beiden Bildern.
Am 27. Juli, nur drei Wochen nach ihrem letzten Treffen, erschoss sich Van Gogh in Auvers bei Paris.
Bald geht es weiter mit Henri Toulouse-Lautrec, den Frauen, dem Zirkus, dem Variété, Paris, Clowns und Clowninnen, Sternen am Pariser Nachthimmel…