Petruschkis Fahrt ins Blaue - Kapitel 8 - Wie Hans Hartung Licht und Bewegung auf die Leinwand verführt
For the english version of the blog post click HERE
Im Dezember 2019 gingen wir auf eine Reise mit Bus und Zug durch Spanien, Frankreich, Deutschland, Belgien, Großbritannien und Irland. Das Ziel war die Ausstellung Protest! von Derek Jarman in Dublin, auf dem Weg dorthin gab es soviel anzuschauen. Wir haben 21 Ausstellungen besucht und viele Geschichten entdeckt.
Nur noch bis Mitte Juli, auch im Palais de Tokio, Musée d'Art moderne de Paris | Ausstellung
Anna-Eva Bergman. Reise ins Innere
bis 16. Juli 2023
In der Galerie Max Hetzler gab es Anfang des Jahres eine Austellung von Werken Hans Hartungs Hier ein Artikel darüber von Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung: Entarteter Vorreiter - Die Galerie Max Hetzler zeigt Hans Hartung
Krieg
Am 3. September 1939 erklären Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. In Frankreich ist Hartung nun Staatsangehöriger einer feindlichen Macht. Wie alle in Paris anwesenden Deutschen muss er sich im Colombe-Stadion einfinden, von dort aus wird er in ein Internierungslager gebracht. Um dem zu entkommen, tritt er in die Fremdenlegion ein und wird nach Algerien geschickt. Es bedeutete, dass er kaum noch malen konnte. Einige Arbeiten auf Papier aus dieser Zeit zeigen sein Durchhaltevermögen, selbst unter den schwierigsten Bedingungen weiterzuarbeiten.
Es sind Bleistift- und Pastellzeichnungen, die dort entstehen. Wie das Titelbild dieses Kapitels. Die Werke erinnern an die schwarzen Kohlezeichnungen von 1923-24 in einem ähnlichen Format. Rigoros und präzise sind diese Kompositionen, automatisch und instinktiv, ohne sich jedoch auf Unbewusstes oder auf irgendeine Symbolik zu beziehen.
Nach der französischen Kapitulation 1940 schließt er sich der Familie seiner Frau, den Gonzales` an, die in Lot in Lasbouygues Zuflucht gesucht hatte. Während der Invasion der Freizone flieht er vor den Deutschen Faschisten im April 1943 nach Spanien. Er wird verhaftet und neun Monate lang im Lager Miranda de Ebro inhaftiert. Um den Bedingungen des Konzentrationslagers zu entkommen, tritt er ein zweites Mal in die Fremdenlegion ein. Im September 1944 nimmt er mit einer Sanitätsabteilung an der Landung in der Provence teil. Als er im November, während der Befreiung von Belfort, auf dem Schlachtfeld einen Verletzten bergen will, wird er am Bein getroffen und schwer verwundet. Er wird zweimal operiert und sein rechtes Bein wird unterhalb des Knies amputiert. Im Juli 1945 kehrt er nach Arceuil zurück, um dort nach sechs schrecklichen, zerstörenden Kriegsjahren wieder zu malen.
Partisan Review September / Oktober 1941 mit einem Artikel von George L.K. Morris - The Mechanics of Abstract Painting-, darin Bilder von Hartung und seinem Schwiegervater Gonzales. Die Partisan Review, war eine politisch-literarische Zeitschrift, die 1/4 jährlich erschien. Sie existierte von 1934 bis 2003. In ihr veröffentlichten unter anderen George Orwell, James Baldwin, Susan Sontag und Hannah Arendt.
Während des Krieges, vor allem im Jahr 1940, malte Hartung mehr als achtzig solcher Köpfe. Es sind Gouachen in kleinen Formaten. Mit offenem Mund, ausgestreckter Zunge und aufgerissenen Augen zeigen sie Verzweiflung und Wut, Wahnsinn und Entsetzen. Ähnlich wie die Gesichter auf dem Gemälde Guernica von Pablo Picasso oder wie die Skulpturen zum Thema Montserrat, die Julio Gonzales nach dem Krieg geschaffen hat. Sie erzählen von dem Schrecken über die Gewalt dieser Zeit und die Angst, alles zu verlieren. Später hat Hartung ihre Bedeutung relativiert: er hätte sie nur gemalt, um seinen Nächsten etwas Gutes zu tun. Alles wäre ihm damals mehr oder weniger egal gewesen.
In den Kriegsjahren hat er vor allem mit Bleisift und Tinte auf Papier gearbeitet. Als er 1942 bei den Gonzales in Lot Zuflucht fand, arbeitet Hartung mit kaligrafischen Motiven. sie tauchten in den Werken, der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder auf. Diese Zeichnungen waren für ihn wie tägliche Übungen, so wie man Schreibübungen macht oder wie das Üben von Tonleitern in der Musik.
Nachdem er als Kriegsinvalide nach Paris zurückgekehrt war, arbeitete er mit großer Hingabe im ehemaligen Atelier von Julio Gonzales, der 1942 gestorben war. Er setzte Arbeiten fort, die er schon 1939 begonnen hatte, indem er das Prinzip der Rasterübertragung wiederaufnahm und auf frühere Zeichnungen aufbaute. Seine neuen Arbeiten waren erst größer im Format, zum Teil in einer Art weitem kalligraphschen Stil und einer verstärkten Anwendung von schwarzen Zeichen auf farbigem Grund. Wegen seines fehlenden linken Beines, adaptierte er sich und änderte seine Art zu malen. Er führte seine Arbeiten jetzt direkt in kleinen Formaten aus. Daraus wurden Mitte der 1950er Jahre Hunderte von Tintenzeichnungen. Sie haben die Größe einer Hand und schaffen einen vielfältigen Formenkatalog. Einige dieser Zeichnungen übertrug er später auf Leinwand.
Eine Spiegelung auf einem kaum erkennbaren Bild von Hartung.
Hier gab es einen Raum, in dem man den Kurzfim “Visite à Hans Hartung” von Alain Resnais sehen konnte.
Das ist ein Beispiel von der Übertragung einer Zeichnung zu einem Ölgemälde
T 1956 - 15
Ende der 1950er Jahre arbeitete Hartung hauptsächlich auf Papier und produzierte eine Reihe von Pastellen mit schnellem, unruhigem Strich. Damit kündigte sich schon die Kratztechnik der 1960er Jahre an. Die wenigen Gemälde, die er schuf, waren die letzten, die er in Öl malte und bei denen er die Rasterübertragungstechnik verwendete.
T 1955 - 18
Wiedergefunden für immer
Hartung traf Anna Eva Bergmann 1956 wieder. Nach 15 Jahren der Trennung liessen sich die beiden von ihren Partnern scheiden und heirateten 5 Jahre später. Bis zu ihrem Tod blieben sie zusammen. Sie bezogen ein gemeinsames Atelier im 14. Arrondisment. Die Kunsthalle Basel zeigte zu dieser Zeit die erste bedeutende Ausstellung von Hans Hartungs Arbeiten. Es folgte eine ruhige fruchtbare Zeit der Arbeit. Anna Eva Bergmann erschuf ihr eigenes Werk. 1973 zieht das Malerpaar nach Antibes: Sie gründen die Fondation Hartung Bergmann. Auf der Website der Fondation kann man sich die Werke beider Maler anschauen.
Vom 22. Oktober 2020 bis 4. April 2021 wird im Velasquez-Palast in Madrid die Austellung “Anna-Eva Bergman - Von Norden nach Süden, Rhythmen” gezeigt.
"Das ideale Haus für mich ist ein weißer Würfel mit klaren Linien, wie die Häuser der spanischen Fischer auf der Insel Menorca. Die Fenster sind meine Bilder. Durch sie zeichnet sich eine unbewegliche Landschaft ab, doch mit einem ständig sich wandelnden Himmel, der durch die silbernen Blätter der Olivenbäume schimmert."
Zitat aus seiner Autobiografie Autoporträt, 1976, Verlag Grasset
Wie oben schon erwähnt konzentrierte sich Hartung zwischen 1957 und 1961 vor allem auf Papierarbeiten. Seine Pastellbilder zeichnen sich durch große Freiheit und Flexibilität aus und zwar in unzähligen Variationen. Es gibt mehr als dreihundert Werke dieses Typs. Das Spiel der Linien, das sich manchmal in Bällen verdichtet, manchmal aufgelockert unverbunden ist, kündigt schon seinen Malstil zu Beginn der 1960er Jahre an. Mit diesen Arbeiten schuf Hartung sich den kreativen Raum, um sich von der Rasterübertragungsmethode unabhängig machen zu können.
Aufsteigendes Licht - Bewegung wie im Wind. Wie so oft auf Hartungs Bildern treffen sich Zartheit und Kraft.
Kratztechnik
“Kritzeln, kratzen, auf der Leinwand agieren, schließlich malen, scheinen mir menschliche Aktivitäten, auch unmittelbar, spontan und einfach, wie das Singen, der Tanz, das Spielen eines Tieres, das herumtollt, auf der Stelle hüpft, sich schüttelt.”
Hartung 1976
Anfang der 1960er entdeckte Hartung für seine Arbeit mit großer Begeisterung Industrielack, den man für das Spritzen von Autokarrosserien verwendet.
Auch so ein Lieblingsbild - Das ist Berührung und Tanz in einem blauen lichtversprechenden Raum. Die Weichheit lächelt trotz allen Dunkels.
Petits formats - Small works 1960
Einzelstück aus Petits formats - Small works 1960
In der 2. Hälfte der 1960er Jahre steigert er seine Lieblinsfarben Blau und Gelb in schrille und extreme Farbtöne. Sein Malgestus wird immer freier. In den frühen 1970ern nimmt er einige Motive dieser kleinen Formate wieder auf. Nun vergrößert er sie nicht mehr mit dem Rastersystem, sondern durch die Art wie er malt. Er benutzte riesige Pinsel, zum Teil 40 Zentimeter breit und manchmal einfach einen Besen.
Hans Hartung hatte seit seiner Jugend fotografiert. Aber erst ab 1960 wurden seine Fotografien öffentlich gezeigt. Sie standen immer im Dialog mit seinen malerischen Werken.
„… ich habe alles fotografiert, was mich interessierte in dieser Welt: Menschen, Wolken, Wasser, Berge, Risse, Flecken, und alle Arten von Licht- und Schatteneffekten, die – manchmal – eine mehr oder weniger enge Beziehung zu meiner Malerei haben.“
Im Fotoarchiv in der Fondation Hartung-Bergmann befinden sich 35.000 Negative.
Interessanter Artikel zu einer Ausstellung seiner Fotos im Jahr 2016
-Eine Unbekannte Welt gesehen von Hans Hartung Gedichte und Bildunterschriften von Jean Tardieu-
Mit 35 Fotos von Hans Hartung
Jean Tardieu (1903-1995) schrieb surrealistische absurde Gedichte und Theaterstücke. Aber auch Essays und Kunstkritiken. Er war ein französischer Rundfunkpionier.
T 1966 - E25
Die Formate wurden jetzt immer größer. Dieses Bild mißt 154 x 250 cm und wurde mit Vinylfarbe hergestellt, einem Industriematerial, das sehr schnell trocknet. Es gehört zu der sogenannten Wolkenphase, die Hartung zwischen 1965 und 1967 entwickelt. Eine düstere und nebelhafte Oberfläche, eine opace Leinwand wird durchbrochen von leuchtenden, strahlenden Flächen. Seit den frühen 1960ern benutzt Hartung andere Werkzeuge, die den Pinsel ersetzen. Mit der Druckluftpistole erzeugt er durch die feingesprühte Farbe atmosphäreische Effekte ohne dass er die Leinwand direkt berühren muss.
Seit den 1960er-Jahren entwickelte er seine Arbeitstechniken stetig weiter. Er wurde noch gewagter und ging seinen avantgardistischen Weg.
“1973 zieht sich Hartung in das südfranzösische Antibes zurück, wo sein hoch experimentelles Spätwerk entsteht. Hartung braucht die präzise Entwurfszeichnung nicht mehr, die bis dahin Vorgabe und gestalterische Leitlinie für seine Gemälde waren. Mit Hilfe von selbstgebauten oder für die Malzwecke veränderten Geräten und Werkzeugen wie Spritzpistolen, Reisigbesen oder Gummipeitschen spritzt und schiesst er die Farbe nun auf die immer größer werdenden Leinwände. Er produziert soviel, dass er oft nicht mehr zum Signieren kommt. Auf diese Weise entstand innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten das furiose Finale für ein reiches, in manchem noch unentdecktes und unerforschtes Künstlerleben.” Text aus einem Katalog des Kunstmuseums Bonn
Perspektiven - T 1966 - E 25 gesehen durch einen engen Durchgang von der Seite
Ein monströses Flügelpaar vor einem giftig gelb türkisen oder waschblauen Himmel. Es ist leicht in seiner ganzen Massivheit, sich bewegend, federschwer tanzend und die Farben des Hintergrunds können auch die des Frühlings sein, noch schwaches Sonnenlicht und die Farbe der Blüten und des diesigen Himmels…
“Mit diesen großen bräunlichen oder schwarzen Massen versuchte ich, aus dem Inneren heraus, mich mit der kosmischen oder atmosphärischen Spannung, den Energien oder der Strahlung zu identifizieren, die das Universum regieren.”
Hans Hartung
Sich bewegendes Licht und flirrende Schatten. Energiegeladene Unruhe. Der Bruchteil eines Stillstands in der Bewegung.
T 1087 – E 26 So viel weiss und ein blauer sich bewegender Strom
Unendliche Schaffenskraft
Zwischen 1986 und 1989 war Hartung durch einen Schlaganfall körperlich schon sehr geschwächt. Er wurde in seiner Schaffenskraft aber nicht langsamer und malte riesige Bilder, bis zu 3 x 5 Metern. In seinem Todesjahr entstand das 5 Meter lange Gemälde "Energien, die das Universum beherrschen" Man kann es heute in der Fondation Hartung - Bergmann sehen.
Seine Arbeitsweise ohne Kontakt mit der Leinwand erinnert an die Technik des Tropfens von Jackson Pollock. Hartung arbeitete hauptsächlich nachts und tauchte in eine Welt ein, in der die Malerei sich mit der Barockmusik verband, die er im Studio hörte, und mit der Natur, die ihn umgab.
“Der wahre Künstler, wissend und klar, dass der Motor seiner Kunst seine Erlebnisse als Kind waren.”
Hans Hartung
Ach…und jetzt fehlen mir die Worte, glänzende Schlussworte zu dieser ersten Ausstellung auf unserem Weg. Das war Intensität. Künstler sein, Kunst schaffen ist eine Aufgabe, die man im Leben hat. Der man sich stellen muss, die man annzunehmen hat. Es ist eine Arbeit, die gemacht werden muss. Wie Heu machen, Gemüse verkaufen, Autos zusammenschrauben, zu forschen, zu lehren.
Ein bisschen schwindelig von Hartungs Kunst und seinem erfüllten Leben taumele ich aus der Ausstellung. Es ist keine Zeit, in die riesige ständige Sammlung zu gehen und ich bin auch so voller Eindrücke…Aber damals freute ich mich darauf, am nächsten Tag wiederzukommen. Ja, am nächsten Tag…am nächsten Tag war Streik und aus war es für mich mit der ständigen Sammlung.
Und es gab noch ein Wunder. An einer weissen hohen Wand heftete ein kleiner Wegweiser, der zeigte die Treppe runter: Matisse. Eigentlich sah es eher aus, als würde man dort zu den Toilettenräumen im Keller kommen. Ich hupfte also runter und es eröffnete sich mir eine große Halle. Ganz allein war ich dort und durfte das anschauen:
Matisse La danse inachevée 1931
Und dahinter war noch etwas, nämlich das hier:
1930 lernte der 61-jährige Henri Matisse Dr. Albert Barnes kennen, einen amerikanischen Milliardär, der sich für moderne Kunst begeisterte. Barnes war ein großer Bewunderer von Matisse und gab bei ihm eine Wanddekoration für die Haupthalle seines Hauses in Auftrag. Als Thema wählte Matisse den Tanz, eines seiner Lieblingsthemen. Er arbeitete zwischen 1930 und 1933 fast ausschließlich an diesem monumentalen Werk. Es schuf drei Versionen von La Danse.
Mit der ersten Version, La Danse inachevée (1930-1931), war Matisse nicht zufrieden. Er entwickelte eine zweite Version in Grau, Blau, Rosa und Schwarz in der Papierschnitttechnik. So konnte er die Elemente immer wieder neu anordnen. Diese Version hatte aber nicht die richtigen Abmessungen für Barnes´ Halle. Also erschuf Matisse noch eine dritte Version, die dann in der Barnes Foundation installiert wurde.
Erst 1990 wurde La Danse inachevée in Matisse Atelier in Nizza gefunden. Auch eine interessante Geschichte wie ein so riesiges Bild erst 36 Jahre nach dem Tod des Künstlers in seinem Atelier gefunden wird. Das würde ich gerne wissen….
Die zwei “übrigen” Versionen hängen also jetzt hier in diesem hohen schönen Kellerraum, der Matisse gewidmet ist.
Und ich trete beglückt ins goldene Pariser Nachmittagslicht. Aber bevor ich euch von diesem Nachmittag berichte, widmet sich das nächste Kapitel der Pionierin der Abstraktion Hilma af Klint.