Petruschkis Fahrt ins Blaue - Kapitel 12 - Hans Hartung und die Beatles - Nicolas de Staël
Titelbild: Nicolas de Staël Fleurs dans un vase Bleu 1953 by Cea. liscensed under CC BY 2.
“Erforsche die Leere bis an ihre Grenzen.”
Nicolas de Staël
NOCH BIS ZUM 21. JANUAR Nicolas de Staël im Musée d'Art Moderne in Paris
Das Musée d'Art Moderne in Paris widmet Nicolas de Staël (1914-1955), einer der wichtigsten Figuren der französischen Kunstszene der Nachkriegszeit, eine große Retrospektive. Zwanzig Jahre nach der vom Centre Pompidou 2003 organisierten Ausstellung bietet die Ausstellung einen neuen Blick auf das Werk des Künstlers und nutzt dabei die Vorteile neuerer thematischer Ausstellungen, die einige unbekannte Aspekte seiner Karriere beleuchteten (Antibes 2014, Le Havre 2014, Aix-en-Provence 2018).
Wer war Nicolas de Staël?
Ich muss zugeben, dass ich vorher noch nie von ihm gehört hatte. Obwohl er als einer der prominentesten Künstler der französischen Nachkriegszeit gilt. Aber auch er war lange Zeit vergessen. Erst seit vielleicht 10 / 15 Jahren gibt es wieder Ausstellungen und seine Gemälder werden sehr teuer gehandelt.
Porträt des Nicolas de Staël gezeichnet von Yan Ten Kate 1937
Vielleicht entsteht deswegen dieses Kapitel. Weil es mich immer so freut, jemanden zu entdecken, dessen Bilder ich gerne in einer Ausstellung sehen, denen ich gerne gegenüber stehen würde, mit all ihren Pinselstrichen und Farbmassen. Das Titelbild Blumen in blauer Vase von 1953 ist von ihm.
Ich betrete wieder ein unbekanntes, unendliches Land und verliere mich schnell. Und verliere mich aber so rasend schnell. Was ich alles aufnehme, macht meine Reise plötzlich ganz langsam, wie in Zeitlupe fliege ich mit gedehnten Flügelschlägen durch die 1950er Jahre und die erfolgreichen Jahre der abstrakten Malerei. Wie lange hat das gedauert, bis sie bedeutend wurde…. ? Und ich gleite weiter zurück auf den Luftströmen bis ins Jahr 1907. Da hat der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer seine Doktorarbeit veröffentlicht: “Abstraktion und Einfühlung". Darin heißt es: "Die Tendenz zur Abstraktion ist die Folge einer tiefen Verunsicherung des Menschen angesichts der Welt."
Im gleichen Jahr hatte Hilma af Klint die ersten Bilder “Die großen Zehn”gemalt, auch František Kupka malte abstrakt. Kandinsky schuf irgendwann einige wenige Jahre später “das erste abstrakte Bild” und schrieb seinen wegweisenenden Text: “Über das Geistige in der Kunst” 1911. Und es gab noch viele andere: Sonia Delauney-Terk (geb. 1885), Robert Delauney (geb.1885) , Picabia (geb. 1878), Mondrian (geb. 1872), Sophie Taeuber-Arp (geb. 1889) und mehr und mehr. Dann kamen zwei lange zerstörende Kriege. Paris wurde das Zentrum der Abstrakten Kunst. Im 2. Weltkrieg unter der Besatzung der Nazis konnte abstrakte Kunst nur im Untergrund geschehen und war Teil der Resistance.
In der Nachkriegszeit entstand die Nouvelle École de Paris, eine lockere Verbindung von Künstler*innen des Tachismus und Informel. Zu ihr gehörten Nicolas de Staël und Hans Hartung. Und ich verliere mich, eher flatternd als fliegend im Biographischen. Was bei Nicolas de Staël wie eine Reise durch das Klischee des aufregenden, tragischen Lebens eines Künstlers bedeutet, der am Ende vielleicht an der Liebe und an der Überforderung zerbricht.
Auf diesem Gemälde sieht man den pastosen Auftrag der Farben. Das macht das Bild zu einem Relief, das ungeheuer lebendig und sinnlich wirkt.
“Der Instinkt ist von unbewusster Perfektion und meine Bilder leben von bewusster Unvollkommenheit.”
Nicolas de Staël
Im deutschen Wikipediaartikel über Nicolas de Staël wird erwähnt, dass die Malerin Christine Boumeester ihn in Nizza für Abstrakte Kunst begeisterte. Sie hatte sich zuerst der surrealistischen Malerei gewidmet und war durch Hans Hartung zur Abstraktion gekommen. Ganz irgendwo im Hinterkopf dachte ich mal gelesen zu haben, dass sie Hartung und de Staël zusammengebracht habe. Aber ich habe es einfach nicht mehr gefunden. Im Wikiwandartikel heisst es, die belgische Malerin Madeleine Haupert, die selber an der Pariser Kunstakademie war, habe ihm die Abstraktion nahegebracht. An sie schrieb er:
Liebe Madeleine Haupert ...
„In Erinnerung an unsere Fragen, unsere Probleme, unsere Ängste als beginnende Maler, auch unsere Hoffnungen, sage ich dir… arbeite für dich selbst, nur für dich. Es ist das Beste von uns ... Ich habe mein Universum und meine Stille verloren. Ich werde blind. ….Niemand für andere und alles für mich selbst sein ... Wenn du deine Welt noch nicht verloren hast, hüte sie eifersüchtig, verteidige sie gegen Invasion; Ich sterbe ... "
Hartung und de Staël haben sich in den gleichen Künstlerkreisen bewegt und hatten die gleichen Freunde. Und die wunderbare Galeristin Jeanne Bucher war mit beiden verbunden. Sie hatte in ihrer Galerie schon ab 1925 Werke des Kubismus und des Surrealismus ausgestellt. Während der Okkupation Frankreichs durch die deutschen Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg stellte sie trotz aller Bedrohung die Werke verfemter Künstler aus. In den dreißiger Jahren konnte Hartung seine Bilder bei ihr lagern. De Staël und seine Familie unterstützte sie. Unter anderem verschaffte sie ihnen die Möglichkeit in einem Landhaus zu wohnen. 1944 gab es bei ihr die erste Einzelausstellung Nicolas de Staëls in Paris.
Und es gibt noch eine Verbindung aus der heutigen Zeit. 2016 gab es in der Londoner Galerie Waddington Custot die Ausstellung Vibration of Space - Heron, de Staël, Hartung, Soulages.
Der Maler Patrick Heron glaubte, dass eine „Schwingung des Raums“ erzeugt würde, durch die Anwendung der Materialität der Farbe, die eine sichtbare Maserung auf der Oberfläche des Gemäldes hervorbringt. Sozusagen… sobald gemalt wird, schwingt der Raum. Für ihn ein Schlüsselelement, das er in seine eigene Arbeit dieser Zeit einbrachte und in der Arbeit von Hartung, Soulages und de Staël so sehr schätzte.
Bei “Vibration of Space” denke ich natürlich an Hartungs Versuche die Schwingungen des Universums zu malen, an Hilma af Klints Stimmen aus dem Universum. Nun haben wir auch Nicolas de Staël als Universumsmaler.
“Man malt nie, was man sieht oder zu sehen glaubt. Man malt mit tausend Schwingungen den Schlag, den man abbekommen hat, den man abbekommen wird, ähnlich, anders.” Nicolas de Staël n einem Brief an Roger von Gindertael
Und hier noch etwas wunderbare Physik: Die Erde, sie summt und singt und brummt.
Nikolai Vladimirovich Stael von Holstein wurde 1914 in St. Petersburg geboren. Die Familie stand dem Zaren nah und sie mussten vor der Revolution fliehen. Im polnischen Exil starben seine Eltern früh. Er wuchs mit seinen beiden Schwestern in Brüssel bei wohlhabenden Freunden der Familie auf.
Ab 1933 studierte er Kunst an der Akademie Beaux-arts de Bruxelles.
Er reist durch Frankreich und Spanien. In Barcelona verkauft er sogar ein Bild. Von seinem Frühwerk ist kaum noch etwas vorhanden. Bis Mitte der 1940er Jahre hat er seine Bilder immer wieder vernichtet.
In Marokko trifft er Jeannine Guillon, ebenfalls Malerin. Sie lebt dort mit ihrem Mann Olek Teslar und dem gemeinsamen Sohn Antek in einer Phalanstère, das waren von dem frühsozialistischen französischen Theoretiker, Reformer und Utopisten Charles Fourier (1772–1836) erdachte landwirtschaftliche oder industrielle Produktions- und Wohngenossenschaften. Vor allem verteilen sie dort Medikamente an die Landbevölkerung.
Sie verlässt ihren Mann und bleibt mit ihrem Sohn bei de Staël. Es gibt wenige Bilder von ihr, viele befinden sich wohlgehütet in Privatsammlungen. Sie war wohl schon eine sehr gefestigte Malerin, als die beiden sich trafen, während de Staël noch auf der Suche war. 1935 lobte ein Kunstkritiker ihre Arbeiten, er bezeichnete sie als “viril und nervös”.
Viele Jahre später sagt Staël:
„Als ich jung war, habe ich das Porträt von Jeannine gemalt. Ein Porträt, ein wahres Porträt, ist immer noch der Höhepunkt der Kunst.”
Die Familie geht nach Paris. Heiraten könnnen sie nicht, weil ihre Scheidung bürokratisch zu kompliziert ist. Sie leben in prekären Verhältnissen. 1939/40 ist Nicolas de Staël in der Fremdenlegion in Tunesien. Als er zurückommt, gehen sie nach Nizza. Dort wird 1942 ihre Tochter Anne geboren. Seine kleine Tochter inspiriert ihn und er legt den Schwerpunkt seiner Arbeit nun statt auf Landschaften, auf Porträts von Jeaninne. 1943 kehren sie zu viert wieder nach Paris zurück. Die Kriegsjahre sind sehr schwierig. Jeanne Bucher, die mutige Galeristin, hilft der Familie. Sie organisiert auch die erste Einzelausstellung 1944 de Staëls in Paris. Er verkauft nichts, obwohl wirklich viele bekannte Maler*innen zur Eröffnung kommen. Die Kritik ist verhalten. Noch gilt abstrakte Kunst wenig.
Er sieht wirklich faszinierend aus, selbst ein Gemälde, ein schönes Tier, ein malender Fuchs. Man hat ihn auch “ der Prinz” genannt.
Im Februar 1946 stirbt Jeannine Guillon mit 37 Jahren. Es gibt ein Zitat von ihr, als sie im Krankenhaus liegt, das klingt wie ein finsteres Gedicht: "Ich habe meine Wahrheit einem geborenen Lügner anvertraut / der es niemals sagen kann / er wird es leben / seine brillante Lüge gegenüber der Welt wird es greifbar machen." Zitat aus der Sendung von France Culture: Jeannine Guillou et Nicolas de Staël : la rencontre
Der Tod seiner Frau, die anhaltenden finanziellen Schwierigkeiten, die schweren Kriegsjahre, all das bringt de Staël in eine tiefe Depression. Einige Monate nach dem Tod seiner Frau heiratet er Françoise Chapouton. Seine Tochter Anna de Staël beschreibt die Situation so: „Sie heirateten im Mai 1946, ohne darauf zu warten, dass die Farbe trocknet, um eine neue Farbe aufzutragen. Es war die höchste Freude neben tiefstem Schmerz. Und man kann sagen, dass er aus diesem Widerspruch der Gefühle eine momentane Energie schöpfte, die es ihm ermöglichte, weiterzukommen, seine Art des Malens noch weiter zu schärfen.”
In den folgenden Jahren stellt sich langsam Erfolg ein. Er trifft den amerikanischen Kunsthändler Theodore Schempp, der seine Arbeiten in den USA verbreitet. Er stellt mit Braque und anderen bekannten Malern im Dominikanerkloster Saulchoir in Étiollesaus aus. Braques wurde ein lebenslanger Freund, der ihn sehr inspiriert hat. Es wird ein Gemälde von ihm für das Refektorium des Klosters gekauft. Er beginnt mehr zu verkaufen.
Im April 1948 wird er eingebürgert. Kurz darauf kommt der Sohn Jérôme zur Welt. Anne de Staël sieht eine Verbindung zwischen den Geburten der Kinder und seiner Art zu malen: “Das Leben in seiner Malerei gab dem Vergänglichen ein Gefühl von sehr langer Dauer. Das Leben, das waren die Geburten seiner Tochter Laurence am 6. April 1947 seines Sohnes Jérôme am 13. April 1948. Die Freude de Staëls über die Geburten seiner Kinder war ein tiefes, intensives Gefühl. Die Erinnerung an die Geburten, an den Moment an dem das Licht ausgegossen wurde. Leben ist Farbe und Energie, die die Flamme immer höher lodern lässt.”
De Staël arbeitet ununterbrochen an der Entwicklung der Farben. So werden die Farbaufträge dichter und dicker, die Farben selbst feiner.
1949 wird ein wichtiges Jahr für ihn. Er nimmt an Gruppenausstellungen in São Paulo und Toronto teil. Er verwendet alle Techniken, alle Materialien: Gouache, Tusche, Öl, Leinwand, Papier. Und er weigert sich, wie Zeit seines Lebens, in eine Kategorie eingeordnet zu werden. Als das Musée national d'art moderne de Paris im März 1950 ein Ölgemälde auf Leinwand von 1949 kaufte, wollte er nicht, dass es in der Gruppe der Abstrakten hängt. Das Gemälde hieß dann auch nicht “Abstrakte Komposition” sondern “Komposition in Grau und Grün”.
Immer wieder wurde de Staël der Vorwurf gemacht, die Abstraktion verlassen zu haben und zum Figürlichen zurückgekehrt zu sein. Sein Werk wechselte zwischen Figuration und Abstraktion, manchmal konnte es zwischen beidem schwingen und vermischte sich. De Staël wollte sich immer wieder erneuern.
Hier sieht man acht Bilder aus dem Zyklus “Les Grands Footballeurs“, der 15 Gemälde umfasst. Sehr schön kann man sie auf der Website footichiste ansehen.
Als er am 26. März 1952 mit seiner Frau das Fußballspiel Frankreich gegen Schweden im Pariser Parc des Princes Stadion besucht, begeistert ihn das so sehr, dass er gleich in der Nacht zu malen beginnt. Es ist eines der ersten Spiele unter Flutlicht und er ist fasziniert von der Strahlkraft der Farben. Eine Woche später stellt er das großformatige Bild 200 × 350 cm Le Parc des Princes fertig. Er verwendet sehr große Spatel und Blechstücke, um die Farbe zu verteilen.
Ich stelle mir vor, wie das gewesen sein muss…zum ersten Mal ein Spiel unter Flutlicht zu sehen: explodierende Farben, ein Rausch, der, unter dem künstlichen, blendenden Licht leuchtend grüne Rasen, von dem sich die Trikots noch strahlender abheben. Und das alles in einer ständigen Bewegung.
Als er im Mai desselben Jahres das Gemälde ausstellt, wird es sowohl von seinen Kollegen als auch von Kritikern als Beleidigung angesehen. Man sieht in ihm ein Manifest des Figurativen, das alle Befürworter der Abstraktion dagegen hat. De Staël wird für schuldig befunden, seine abstrakte Forschung aufgegeben zu haben. Er wurde von dem Künstler und Kunsttheoretiker André Lhote als „politischer Straftäter“ bezeichnet.
Ich, als Nichtkunsthistorikerin, hatte keine Ahnung von diesen Kämpfen um die “einzig wahre” Malerei, dass es diesen Streit unter den Künstlern selbst gab. Wahre künstler kategorisieren doch nicht… Ich dachte immer, eigentlich hätten nur die neuen Strömungen mit den konservativen Kräften zu kämpfen gehabt. Was wohl Hans Hartung zu diesen Kämpfen gesagt hätte oder hat?
Obwohl André Breton behauptete, ein Künstler, der sich nicht ganz und gar dem Abstrakten widmete, könne keinen Erfolg haben, traf das auf De Staël nicht zu. Der New Yorker Kunsthändler Rosenberg bot ihm einen Exclusivvertrag an.
Bald findet er eine neue Inspirationsquelle in der Musik. Er entdeckt die “Farben der Klänge”.
Und es fehlen noch die Farben des Südens. Mit der ganzen Familie bereist er in einem Lieferwagen Italien, die Toskana und Sizilien, Agrigento. Dort entsteht eine Reihe von Gemälden unter dem Namen “Agrigento”. Sie gehören zu seinen berühmtesten Werken.
Kurz darauf kaufte de Staël ein Haus im Luberon in Ménerbes, le Castelet. Ménerbes taucht immer wieder als Thema seiner Bilder auf. Er liefert unermüdlich weiter an Rosenberg, der in einer amerikanischen Zeitung schreibt, dass er Staël als einen der sichersten Werte seiner Zeit betrachtet.
Und wirklich war die Ausstellung vom 8. Februar 1954 bei Paul Rosenberg ein sehr großer kommerzieller Erfolg.
Für diese Ausstellung lieferte de Staël all Gemälde, die er in Ménerbes gemalt hatte, in Erinnerung an seine Reise nach Sizilien, Italien. Diese Gemälde mit all den Farben des Südens, Blumen, Stillleben, Landschaften. De Staël arbeitete mit einer unvorstellbaren Energie und produzierte so viele Bilder, dass Rosenberg ihn verlangsamen musste, indem er ihm erklärte, dass die Kunden sich wahrscheinlich vor einer so hohen Produktionsgeschwindigkeit fürchten würden. Verärgert antwortet de Staël: Ich mach, was ich will, die Malerei ist eine Notwendigkeit für mich, ob mit oder ohne Ausstellung.
Die Gemälde des Südens kann man wundervoll hier unter dem Link der Ausstellung La Provence source d’inspiration de Nicolas de Staël im Jahr 2018 in Aix-en-Provence betrachten.
Am 3. April 1954 bringt Françoise einen Sohn zur Welt, Gustave. Aber das Paar lebt schon in Trennung.
Nicolas de Staël hatte sich in eine andere Frau verliebt und zwar bedingungslos. Laurent Greilsamer schreibt in seinem Buch Le Prince foudroyé, la vie de Nicolas de Staël über ihn, es sei das erste Mal gewesen, dass er mehr liebte als geliebt zu werden. Mittlerweile war er durch seine Kunst wohlhabend geworden, aber er blieb melancholisch und verzweifelt.
So wie die Landschaften des Südens ihn zu den leuchtenden, flirrenden Landschaften inspiriert hatten, so inspirierte ihn die Geliebte Jeanne Mathieu zu vielen Aktbildern.
Um der Geliebten näher zu sein, zieht er nach Antibes. Es gibt mehrere Ausstellungsprojekte und er malt wie besessen. Im letzten Lebensmonat soll er 350 Bilder gemalt haben. Ein Kritiker, den er um Rat fragt, bezeichnet die Bilder als zu dekorativ. Das trifft ihn schwer. Er arbeitet an einem riesigen Gemälde “Le Concert” in den Ausmaßen von 3,50 x 6 Metern. Als er es fertiggestellt hat, bringt er sich um.
Im März 1955 vertraute er seinem Ziehsohn Antoine Tudal, vormals Antek Teslar, dem Sohn seiner ersten Frau Jeannine, an:
„…ich weiß nicht, ob ich noch lange leben werde. Ich glaube ich habe genug gemalt. Ich habe bekommen was ich wollte. "
Soviel Kraft, Mut und Hingabe sehe ich in der Kunst Nicolas de Staëls. Und soviel Verzweiflung erschüttert mich.
Ich komme nun noch zu Godard, der von Nicolas de Staël auf ganz besondere Weise inspiriert wurde.
“Mein ganzes Leben lang musste ich an das Malen denken, malen, um mich von all den Eindrücken, all den Gefühlen und all den Ängsten zu befreien, von denen die einzige Lösung, die ich kenne, das Malen ist.” Nicolas de Staël
“Es gibt keinen Unterschied zwischen meinem Leben und meinen Filmen. Ich existiere mehr, wenn ich Filme mache, als wenn ich es nicht tue. Es könnte jemand zu mir sagen: "Du hast kein persönliches Leben, wie soll ich da eine Beziehung zu dir führen. Wenn wir uns lieben, sagst du plötzlich: ‘Was für eine schöne Aufnahme, an die ich da gerade denke!’ Es ist wie bei einem Maler, der nur von Farben spricht. " Aber ich denke, das, was ich tue, ist das einzige, von dem ich sprechen kann - Kreation.”…Jean-Luc Godard
Und Godard sagte auch: “Sie fragen mich nach der Malerei […] Es ist eine enorme Hilfe. […] In der Malerei kenne ich niemanden, der weiter ging als Nicolas de Staël.”
Bevor Godard sich dem Kino zuwandte, wollte er eigentlich Maler werden. Kurz nach dem sein erster Spielfilm ‘Außer Atem’ (À Bout de souffle) im Jahr 1960 herauskam, erklärte Godard: „Ich arbeite wie ein Maler.“ In seinen Filmen hat er immer wieder Malerei zitiert, als Reproduktionen, als Tableaus, als Szenen, die an bestimmte Gemälde erinnerten, auch durch manche Benennung seiner Figuren. Er hat sozusagen seine private Kunstgeschichte geschaffen (in der es allerdings nur männliche Künstler gibt, ja so isser). Der Großteil dieser eigenen Kunstgeschichte in seinen Filmen sind keine zeitgenössischen Maler. Sie endet mit dem Selbstmord de Staëls im Jahr 1955. In einem Interview von 1997 wurde Godard gefragt, mit welchen Künstlern er sich identifiziere. Godard antwortete: „Novalis, Nicolas de Staël… diejenigen, die jung und tragisch gestorben sind.“
Besonders erlebt man Godards Faszination für Nicolas de Staël in seinem Film Pierrot Le Fou. Er wird sogar namentlich erwähnt: Als Marianne und Ferdinand auf der Flucht sind und es darum geht, Geschichten für die Leute zu erfinden, um sie zu beruhigen, fragt ihn Marianne, welche Art von Geschichten es denn sein sollten und Ferdinand antwortet:
"Der Fall von Konstantinopel oder die Geschichte von Nicolas de Staël und seinem Selbstmord oder die über William Wilson."
Das flüchtende Paar bewegt sich von Paris nach Südfrankreich und spiegelt de Staëls eigenen Umzug von Paris in die Provence im Jahr 1953 und dann im Jahr 1954 nach Antibes wider.
Und dann sind da natürlich die Farben in diesem Film, die Farben de Staëls in seinen Bildern zu Anfang der 1950er Jahre. Im Film dominiert Blau, aber es gibt eine Art Kampf zwischen dem Blau und dem Rot Der Anfang ist vorwiegend in Rot gehalten, der Abspann dagegen Blau. Dieser Kontrast dominiert die Palette des Films, wie zum Beispiel die Einstellung als Marianne Renoir in einem hellblauen Bademantel mit einem leuchtend roten Topf zu sehen ist oder die Szene zwischen Marianne und Pierrot nebeneinander in blauen und roten Sportwagen.
In den letzten Szenen von Pierrot le fou wird die Verbindung zu de Staël besonders deutlich. Die Visagistin Jackie Reynal erinnert sich: Für Pierrot le fou beschloss Godard, wegen seines Lichts und dem Weiß dort, in dem Ort Porquerolles zu drehen. Dort ist das Weiß, das Blau und das Rot intensiver. Daher kam die Idee, dass Belmondo sein Gesicht blau malt - offensichtlich keine Idee eines Visagisten.
Am Ende des Films hat sich Ferdinand, in eine Art Tableau Vivant, wie in eine Abstraktion von de Staëls Leben und Tod verwandelt. In einem roten Hemd bereitet sich Ferdinand auf seinen eigenen Selbstmord vor, indem er sein Gesicht Blau bemalt und so an die Bilder der südfranzösischen Landschaften de Staëls erinnert wie Paysage du Lavandou (1952).
Quelle für diesen Abschnitt über Godard und Nicolas de Staël ist der sehr beeindruckende und ausführliche Artikel Leap into the Void: Godard and the Painter von Sally Shafto vom Mai 2006 in Senses of Cinema
Im nächsten Kapitel geht es zurück zur ursprünglichen Reise, es wird ein Lustwandeln durch Paris zur Ausstellung Greco im Grand Palais.